Vor gut einer Woche haben wir einen eintägigen Denkraum mit Dr. Gerhard Wohland, Ralf Hildebrandt (dynamikrobust.com) und 12 Geschäftsführern und Führungskräften durchgeführt. Es war - wie immer mit Gerhard und Ralf - aufrüttelnd, inspirierend und lehrreich. Warum?

Die beiden zählen zu den Top-Experten in soziologischer Systemtheorie (Parsons, Luhmann...) im deutschsprachigen Raum. Wie so häufig bei brillanten Theoretikern haben andere Autoren, die z.B. das Wohland'sche Modell der Taylor Wanne oder die Unterscheidung zwischen blau (kompliziert) und rot (komplex) aufgegriffen haben, größere Bekanntheit in Fachkreisen erlangt.
Nach einem Tag mit Wohland/Hildebrandt kann man Organisation, Führung und Wirtschaft nicht mehr so denken wie zuvor. Denn vieles, was wir als logisch und klar akzeptiert haben, gerät ins Wanken, wenn wir es durch die soziologische Brille betrachten. Einige Beispiele gefällig?

  • Organisation besteht nicht aus Menschen.
  • Organisation besteht nur aus Kommunikation.
  • Soziale Systeme können nicht wahrnehmen, nur kommunizieren.
  • Wirtschaft ist moralisch dicht.
  • Kultur kann man nicht entwickeln.
  • Informationen kann man nicht austauschen.

Die soziologische Systemtheorie beinhaltet unzählige Provokationen und Irritationen, wenn man von der Betriebswirtschafts- und Managementlehre geprägt wurde. Genau darin besteht das immense Potenzial der Systemtheorie. WIRKLICH neues (Nach)Denken über Wirtschaft, Organisation, Führung und Zusammenarbeit.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse besteht für mich darin, dass man Allgemeinplätze, wie man sie tagtäglich in Medien, auf Facebook, LinkedIn, Twitter, Blogs etc. liest, radikal hinterfragt. Denn die meisten Allgemeinplätze sind - theoretisch betrachtet - völliger Unfug und "unnützer Denkmüll" (Zitat Wohland).
Warum ist diese Ausprägung der Systemtheorie genau jetzt so relevant?

Umgang mit zunehmender Dynamik

Unternehmen müssen heute in der Lage sein, mit zunehmender Dynamik umzugehen. Mehr noch: Die besten Unternehmen nutzen Marktdynamik, um mit echten Innovationen Marktdruck zu erzeugen. Diese Unternehmen agieren schneller, gezielter und häufig auch unkonventioneller.
Für mich ist klar:

  1. Dynamik: Die Marktdynamik wird weiter zunehmen.
  2. Anpassung: Unternehmen müssen sich auf die Marktdynamik einstellen, sonst werden sie untergehen.
  3. Wissen: Die Organisations- und Führungskonzepte des Industriezeitalters sind bei hoher Dynamik häufig nutzlos oder sogar kontraproduktiv.
  4. Theorie: Wir brauchen künftig neben dem praktischen Ausprobieren und Erleben vor allem fundierte Theorie, um Organisationen zukunftsfähig zu managen und zu entwickeln.

 

Neues Denken

Mein Blogger-Kollege Conny Dethloff hat bereits vor einigen Jahren von der "kopernikanischen Wende im Management" gesprochen. Diese wird aufgrund der bereits angesprochenen höheren Umfelddynamik notwendig. Diese Ansicht teile ich. Hinzu fügen würde ich noch, dass wir folglich auch eine neue Form der Aufklärung benötigen. Denn unser Denken über die Welt ist auch aufgrund der neuen Medienwelt zunehmend vernebelt und verklärt.
Die meisten Konzepte, die in den letzten Jahren das vermeintlich Neue versprochen haben, sind eigentlich nur alter Wein in neuen Schläuchen. Ein gutes Beispiel ist Agiles Management. Natürlich sind Konzepte wie Scrum etc. für viele Organisationen neu. Die Prinzipien hinter Agile sind aber aus den 1950er Jahren.
Meine persönliche kopernikanische Wende im Management- und Organisationsverständnis hat die Auseinandersetzung mit Systemtheorie bewirkt. Speziell die soziologische Systemtheorie nach Parsons und Luhmann birgt Erkenntnisse, die für moderne Unternehmensführung und -entwicklung unverzichtbar sind.
Der Soziologe Stefan Kühl formuliert die Bedeutung von Systemtheorie in diesem Zusammenhang wie folgt (Quelle):

"Ich würde also sagen, die Systemtheorie hat eine aufklärerische, distanzierte Funktion, wenn es um die Beschreibung von Organisationen und ihren Veränderungen geht. Sie macht die ganze Euphorie nicht mit, die in der Management- und Beraterwelt stattfindet."

Das "Problem" mit der Systemtheorie ist nur, dass sie demjenigen, der sie lernen und verstehen möchte, einiges abverlangt. Denn sie zwingt zu wirklich neuem Denken. Eingefleischte Praktiker/innen und Macher/innen reagieren häufig irritiert, ablehnend oder mit Unverständnis. Genau hier liegt die Chance.

Fazit

Wir nutzen Systemtheorie praktisch tagtäglich in unseren Projekten. Denn gute Theorie ist in komplexen Situationen tatsächlich das Praktischste, was man für wirkungsvolle Problemlösung zur Verfügung hat. Gute Theorie ist Praxis im Kopf.
Ich würde mir wünschen, dass alle Menschen, die in Organisationen (Führungs)Veranwortung übernehmen, Systemtheorie als wirklich NEUES DENKMODELL entdecken und sich damit beschäftigen. Systemtheoretisches Denken macht einen Unterschied, der einen Unterschied macht 😉
Stefan Hagen