Um Missverständnisse von Beginn an zu vermeiden: Ohne Moral kann gesellschaftliches Zusammenleben nicht funktionieren. Denn in Sozialsystemen wird durch Werte, Normen und Prinzipien definiert, welches Verhalten wertgeschätzt bzw. verurteilt wird. ABER: Wer komplexe soziale Systeme (wie z.B. Unternehmen) besser verstehen möchte, darf nicht moralisieren.

Das Problem mit der Moral.

Die Forderung nach moralischem, werteorientiertem Handeln ist allgegenwärtig: Politiker/innen, Unternehmer/innen, Führungskräfte und Menschen im Allgemeinen sollen sich endlich anständig benehmen und das Richtige tun. So kann's doch nicht weiter gehen!
Solche Forderungen sind moralisierend. Die Intention fühlt sich bei demjenigen, der sie propagiert, gut an. Aber in der Regel ändert sich nichts am kritisierten (System)Zustand. Warum?

  • Gefühle vs. Verstand: Hinter Moral stehen Werte. Werte sind Gefühle, die sich beim Handeln einstehen. Wenn persönliche Werte verletzt werden, regt sich Emotion. Das Problem: Wer emotional ist, kann nicht mehr klar denken oder verstehen.
  • Mensch vs. System: Nur Menschen können moralisch denken und handeln. Im Unterschied dazu haben Sozialsysteme kein Bewusstsein. Das Funktionieren von Systemen wird durch formale Strukturen und Rahmenbedingungen bestimmt. Hier ist auch der Ansatzpunkt, wenn man Sozialsysteme verändern möchte. Kultur folgt der Struktur.
  • Fühlen vs. Funktionieren: Das Menschsein macht u.a. aus, dass wir denken und fühlen und so Einfluss auf die Welt nehmen können. Sozialsysteme hingegen bestehen aus der Kommunikation von Entscheidungen. Das Funktionieren von Systemen macht aus, dass Entscheidungen getroffen werden, welche die Fortsetzung des Systems ermöglichen.

Wahrheit ist Produktivkraft.

Wenn wir Zustände in Organisationen verändern wollen, müssen wir das Funktionieren von Systemen (besser) verstehen lernen. Moral und Gefühle sind hier in einem ersten Schritt hinderlich, denn sie behindern beim Denken.
Es gilt, bessere Erkenntnisse über die Zustände im jeweiligen System zu generieren (= Geist, Verstand), um in einem zweiten Schritt mit Leidenschaft und Emotion für die Veränderung einzutreten (= Haltung, Mut). Nur wenn man Bewusstsein für die Unterscheidung entwickelt, kann man die Polaritäten nützlich koppeln und integrieren.

Unterscheide, ohne zu trennen.

Wir müssen lernen, in Widersprüchen zu denken und diese zu nutzen. Dieses dialektische Denken ist den meisten Menschen fremd, weil wir in einer industriell geprägten Welt zu einseitigen Denkern trainiert wurden. Deshalb sind u.a. auch folgende Aussprüche so häufig anzutreffen:

  • "Wie machen wir das jetzt konkret?"
  • "Was ist richtig?"
  • "Was müssen wir tun?"

All diese Frage können in einfachen oder komplizierten Situationen gestellt und richtig beantwortet werden, weil diese Problemanteile mit WISSEN gelöst werden können. Je komplexer und dynamischer der Kontext aber ist, umso entscheidender ist das KÖNNEN. Denn komplexe Situationen sind auch immer widersprüchlich, unklar und erzeugen Verunsicherung, weil das Problem nicht mit reinem Wissen gelöst werden kann und/oder das Wissen fehlt.
Dialektisches Denken und Handeln bedeutet u.a., sich der Komplexität durch gute Beobachtung bewusst zu werden, die Muster komplexer Systeme besser verstehen zu lernen, mutig zu entscheiden und zu handeln und dann Erkenntnisse zu generieren, wie sich dieses Denken und Handeln ausgewirkt hat.

Zuerst (besser) verstehen, dann entscheiden und handeln.

Wer in komplexen Kontexten moralisiert, kann nicht verstehen. Genau dies passiert uns aber immer häufiger, auch bedingt durch unsere neue Medienwelt. Stimmungen sind gereizt, aufgeheizt und explosiv - wir suchen vor allem bei MENSCHEN die Lösung für unsere Probleme. Natürlich hat menschliches Verhalten die meisten der großen und kleinen Krisen unserer Zeit herbei geführt - hier liegt aber in der Regel nicht die Lösung für die Probleme.
Vielmehr müssen wir hinterfragen, welche Strukturen und Muster menschliches Verhalten prägen und beeinflussen? Das sind die SYSTEME, in denen sich unser gesamtes Leben abspielt.
In der richtigen Kopplung von System <> Mensch, Funktion <> Emotion oder Geist <> Haltung liegt die Lösung für die komplexen Probleme unserer Zeit. Nicht entweder-oder, sondern sowohl-als-auch.
Stefan Hagen