November 22, 2019No Comments

Wer moralisiert, kann nicht verstehen.

Um Missverständnisse von Beginn an zu vermeiden: Ohne Moral kann gesellschaftliches Zusammenleben nicht funktionieren. Denn in Sozialsystemen wird durch Werte, Normen und Prinzipien definiert, welches Verhalten wertgeschätzt bzw. verurteilt wird. ABER: Wer komplexe soziale Systeme (wie z.B. Unternehmen) besser verstehen möchte, darf nicht moralisieren.

Das Problem mit der Moral.

Die Forderung nach moralischem, werteorientiertem Handeln ist allgegenwärtig: Politiker/innen, Unternehmer/innen, Führungskräfte und Menschen im Allgemeinen sollen sich endlich anständig benehmen und das Richtige tun. So kann's doch nicht weiter gehen!
Solche Forderungen sind moralisierend. Die Intention fühlt sich bei demjenigen, der sie propagiert, gut an. Aber in der Regel ändert sich nichts am kritisierten (System)Zustand. Warum?

  • Gefühle vs. Verstand: Hinter Moral stehen Werte. Werte sind Gefühle, die sich beim Handeln einstehen. Wenn persönliche Werte verletzt werden, regt sich Emotion. Das Problem: Wer emotional ist, kann nicht mehr klar denken oder verstehen.
  • Mensch vs. System: Nur Menschen können moralisch denken und handeln. Im Unterschied dazu haben Sozialsysteme kein Bewusstsein. Das Funktionieren von Systemen wird durch formale Strukturen und Rahmenbedingungen bestimmt. Hier ist auch der Ansatzpunkt, wenn man Sozialsysteme verändern möchte. Kultur folgt der Struktur.
  • Fühlen vs. Funktionieren: Das Menschsein macht u.a. aus, dass wir denken und fühlen und so Einfluss auf die Welt nehmen können. Sozialsysteme hingegen bestehen aus der Kommunikation von Entscheidungen. Das Funktionieren von Systemen macht aus, dass Entscheidungen getroffen werden, welche die Fortsetzung des Systems ermöglichen.

Wahrheit ist Produktivkraft.

Wenn wir Zustände in Organisationen verändern wollen, müssen wir das Funktionieren von Systemen (besser) verstehen lernen. Moral und Gefühle sind hier in einem ersten Schritt hinderlich, denn sie behindern beim Denken.
Es gilt, bessere Erkenntnisse über die Zustände im jeweiligen System zu generieren (= Geist, Verstand), um in einem zweiten Schritt mit Leidenschaft und Emotion für die Veränderung einzutreten (= Haltung, Mut). Nur wenn man Bewusstsein für die Unterscheidung entwickelt, kann man die Polaritäten nützlich koppeln und integrieren.

Unterscheide, ohne zu trennen.

Wir müssen lernen, in Widersprüchen zu denken und diese zu nutzen. Dieses dialektische Denken ist den meisten Menschen fremd, weil wir in einer industriell geprägten Welt zu einseitigen Denkern trainiert wurden. Deshalb sind u.a. auch folgende Aussprüche so häufig anzutreffen:

  • "Wie machen wir das jetzt konkret?"
  • "Was ist richtig?"
  • "Was müssen wir tun?"

All diese Frage können in einfachen oder komplizierten Situationen gestellt und richtig beantwortet werden, weil diese Problemanteile mit WISSEN gelöst werden können. Je komplexer und dynamischer der Kontext aber ist, umso entscheidender ist das KÖNNEN. Denn komplexe Situationen sind auch immer widersprüchlich, unklar und erzeugen Verunsicherung, weil das Problem nicht mit reinem Wissen gelöst werden kann und/oder das Wissen fehlt.
Dialektisches Denken und Handeln bedeutet u.a., sich der Komplexität durch gute Beobachtung bewusst zu werden, die Muster komplexer Systeme besser verstehen zu lernen, mutig zu entscheiden und zu handeln und dann Erkenntnisse zu generieren, wie sich dieses Denken und Handeln ausgewirkt hat.

Zuerst (besser) verstehen, dann entscheiden und handeln.

Wer in komplexen Kontexten moralisiert, kann nicht verstehen. Genau dies passiert uns aber immer häufiger, auch bedingt durch unsere neue Medienwelt. Stimmungen sind gereizt, aufgeheizt und explosiv - wir suchen vor allem bei MENSCHEN die Lösung für unsere Probleme. Natürlich hat menschliches Verhalten die meisten der großen und kleinen Krisen unserer Zeit herbei geführt - hier liegt aber in der Regel nicht die Lösung für die Probleme.
Vielmehr müssen wir hinterfragen, welche Strukturen und Muster menschliches Verhalten prägen und beeinflussen? Das sind die SYSTEME, in denen sich unser gesamtes Leben abspielt.
In der richtigen Kopplung von System <> Mensch, Funktion <> Emotion oder Geist <> Haltung liegt die Lösung für die komplexen Probleme unserer Zeit. Nicht entweder-oder, sondern sowohl-als-auch.
Stefan Hagen
 
 

Juni 10, 2019No Comments

Die Kunst des klaren Denkens. Sieben philosophische Inspirationsquellen.

Wir sind gewohnt, eindeutige und widerspruchsfreie Antworten auf unsere Fragen zu erhalten. So sind wir sozialisiert - von frühester Kindheit an. Umgekehrt ist es in den meisten sozialen Kontexten - insbesondere im Business - unpopulär, an den schwierigen Fragen dran zu bleiben, sie immer wieder zu stellen, zu vertiefen und umzuformen.
Genau aber diese Form des Denkens - das Philosophieren - ist heute aber wichtiger denn je. Warum?

  • Weil wir mit großen, entscheidenden Fragen konfrontiert sind - allen voran die Ökologiefrage.
  • Weil die zu lösenden Probleme zunehmend komplex sind.
  • Weil wir für komplexe Fragen differenzierte, ganzheitliche, kreative und gut durchdachte Lösungen brauchen.

Philosophie macht einen Unterschied

Welchen Unterschied könnte es machen, wenn wir der Kunst und Praxis des Philosophierens wieder mehr Zeit, Raum und Bedeutung beimessen?

  • Neugierde: Gutes Philosophieren macht Menschen neugierig. Talentierte Philosoph/innen regen uns an, über die Welt, unser Miteinander und uns selbst tiefer, inspirierter und differenzierter nachzudenken.
  • Verstand: Gutes Philosophieren trainiert unseren Verstand. Wir sind in der Lage, besser zwischen Emotion und Verstand bzw. zwischen Gefühlen und wissenschaftlichen Tatsachen zu unterscheiden.
  • Beziehung: Gutes Philosophieren führt zu besseren Beziehungen. Wir lernen, unsere Argumente kultiviert auszutauschen, von- und miteinander zu lernen und die Qualität der jeweils anderen Position zu erkennen.

Ich möchte Ihnen heute 7 Inspirationsquellen präsentieren, die mich in den letzten Jahren

1 Herbert Pietschmann

Der Österreichische Physiker, Mathematiker und Philosoph Prof. Dr. Herbert Pietschmann zeigt in seinen Büchern und Vorträgen in exzellenter Art und Weise auf, wie unser Denken zu einer Atomisierung der Gesellschaft (Artikel als PDF) führt. Ich empfehle zur Einstimmung diesen ca. 50-minütigen Vortrag.
Besonders wertvoll sind Pietschmanns Ausführungen zu Aporien und Widersprüchen.

2 Yuval Noah Harari

Einer der vielleicht größten Denker unserer Zeit ist Yuval Noah Harari. Zur Einstimmung empfehle ich einige seiner Vorträge, die in großer Zahl auf Youtube verfügbar sind. Und natürlich sind auch seine Bücher höchst lesenswert, um tiefer in seine Gedanken zum Zustand und vor allem zur möglichen Zukunft der Welt einzutauchen.
Besonders wertvoll ist Hararis historische Perspektive auf die Welt.

3 Richard David Precht

Im deutschsprachigen Raum ist Richard David Precht wahrscheinlich der mit Abstand bekannteste Philosoph. Seine Popularität und die Massentauglichkeit seiner Gedanken (insbesondere zu Bildungsfragen) haben dazu geführt, dass sich beim einen oder anderen schon eine gewisse Precht-Müdigkeit eingestellt hat.
Nichtsdestotrotz sollte man Prechts Ausführungen zu Bildung, Digitalisierung, Wissenschaft oder dem Umgang mit Tieren kennen. Precht regt an und manchmal auch auf. Und das ist gut so!

4 Gary Vaynerchuk

Der nächste Vertreter, den ich Ihnen ans Herz legen möchte, ist kein klassischer Philosoph - sondern ein außergewöhnlich erfolgreicher Internet-Unternehmer: Gary Vaynerchuk. Seine Gedanken und Weisheiten sind überaus praktisch. Gary V bekennt sich dazu, in seinem Leben kein einziges Buch zu Ende gelesen zu haben.
Gary V beschreibt seine Philosophie mit "Clouds and Dirt". Damit meint er, dass er sich in seinem Denken und Handeln nur auf zwei Dinge konzentriert:

  • Clouds: Das Verständnis für das Große Ganze. Das, worauf es ankommt.  Das Big Picture.
  • Dirt: Das Wissen und Lernen durch praktisches Erfahren und Wiederholen.

Wichtig ist hierbei: Den "Bull****" in der Mitte lässt Gary V weg. Das ist für ihn alles, was weder inspiriert (Clouds) noch zum konkreten, praktischen Erkenntnisgewinn (Dirt) beiträgt.

5 Rolf Dolbelli

Der Schweizer Philosoph Rolf Dolbelli hat mit seinen Büchern "Die Kunst des klaren Denkens", "Die Kunst des guten Lebens" oder "Die Kunst des klugen Handelns" jeweils Bestseller vorgelegt, die Sie gelesen haben sollten.
Zum Einstieg empfehle ich - wie praktisch immer - einige Youtube Videos mit Vorträgen oder Interviews.

6 Philosophisches Radio

Die für mich persönlich wichtigste Quelle für philosophische Gedanken war in den letzten Jahren wahrscheinlich das Philosophische Radio des WDR. Hier spricht der hervorragende Jürgen Wiebicke regelmäßig mit klugen Denker/innen über verschiede philosophischen Fragestellungen. Seit vielen Jahren höre ich mir die Sendungen beim Autofahren als Podcast an - einfach grandios.

7 Sternstunde Philosophie

Last but not least noch das Äquivalent zum Philosophischen Radio aus der Schweiz - nämlich die Sendung "Sternstunde Philosophie" des Schweizer Fernsehens (SF). Auch dieses Format besticht mit hochkarätigen Denker/innen, vielfältigen Themen und Fragestellungen und im wahrsten Sinne des Wortes essenziellen Gedanken. Sehr wertvoll!

Ich hoffe, Ihre Neugierde und Ihr Interesse für Philosophie geweckt oder neu befeuert zu haben. Vielleicht treten Sie ja bei nächster Gelegenheit dafür ein, sich den praktischen Problemen und Herausforderungen unserer Zeit etwas philosophischer anzunähern. Das bedeutet für mich persönlich u.a. langsamer, substanzieller, widersprüchlicher, aufgeklärter, faktenbasierter, ganzheitlicher und inspirierter.
Ich wünsche gutes Philosophieren!